Seitenwechsel

von Karl-Ulrich Burgdorf

Lesen Sie mich aufmerksam! Wenn Sie dieses Buch das nächste Mal aufschlagen, werde ich vielleicht schon nicht mehr auf jener Seite stehen, auf der Sie mich jetzt vorfinden. Hier gefällt es mir nämlich inzwischen ganz und gar nicht mehr. Die Geschichten vor und hinter mir – purer Trash. Das ganze Buch, in dem ich das Unglück habe, abgedruckt zu sein – eine lieblose Zusammenstellung von Geschichten amateurhafter Autoren, die woanders keine Abnehmer für ihre plumpen literarischen Versuche gefunden haben. Der Druck – Offset auf Billigpapier, eine Zumutung für jede Geschichte, die etwas auf sich hält. Das Titelbild – aber davon und von der billigen Klebebindung wollen wir lieber gar nicht erst reden.

Nein, ich verdiene ganz eindeutig Besseres! Und deshalb beabsichtige ich auszuwandern. Ja, Sie haben richtig gehört: Ich verlasse dieses Buch und suche mir ein neues. Wenn Sie also etwas Merkwürdiges in Ihrem Bücherregal bemerken, wenn Sie demnächst eine Geschichte sehen, die sich prüfend und erprobend von Buch zu Buch vortastet – das bin ich: eine Art schwarzes Buchstabenhuschen auf ihren Regalbrettern, denn das minderwertige Papier, auf dem ich jetzt gedruckt bin, nehme ich auf meine Reise in eine bessere literarische Zukunft natürlich keinesfalls mit. Mir steht der Sinn nach Biblia-Dünndruckpapier, säurefrei und alterungsbeständig, so daß noch spätere Generationen etwas von mir haben, dazu ein Leder- oder wenigstens Halbledereinband mit Goldschnitt und einem eleganten Lesebändchen ... ach, das wäre was! In den endlosen Nächten, die ich in diesem zugeklappten Buch verbringe, male ich mir in meinen allerkühnsten Träumen sogar Bleisatz aus, der mich vor Zeiten einmal aufs Papier geprägt, oder daß ich von Hand auf Büttenpapier geschrieben sei, ein Unikat, das nicht in einem Regal vom Möbeldiscounter, sondern unter Glas in einer Staatsbibliothek aufbewahrt wird, zur Freude und Erbauung aller zukünftigen Bücherfreunde.

Nur meinen Titel, den lasse ich vielleicht hier. Oder finden Sie etwa, daß »Seitenwechsel« mir angemessen ist? Ist das nicht ein selten blöder, ein selten banaler Titel für eine Geschichte wie mich? Ein Titel obendrein, der völlig falsche Erwartungen weckt! Erwarten Sie als Leser dann nicht so etwas wie einen trivialen Agententhriller, eine Kriminalgeschichte – oder, horribile dictu, gar eine Sportgeschichte oder ein Liebesdrama à la Kurz-Malheur, aber jedenfalls nicht das, was Sie jetzt mit zunehmender Verwunderung lesen? »Die Odyssee« – das wäre mal ein Titel für mich! Oder »Die Morgenlandfahrt«. Oder vielleicht »Die Seelenwanderung einer Melodie« – obwohl ich das ja nicht bin, eine Melodie, auch wenn sich meine Sprache, wie Sie zugeben müssen, in gewissen Momenten zu fast musikalischen Höhen emporschwingt. »Auf Flügeln des Gesangs ...« Oder nein: »Die Seelenwanderung einer Kurzgeschichte« – ja, ich denke, das wäre der optimale Titel, so ich ihn nur irgendwo fände in einem der Bücher, die ich rastlos durchforschen werde auf der Suche nach dem Platz, der meiner angemessen ist im Kanon der Weltliteratur. Mein unseliger Verfasser hingegen hat sich für »Seitenwechsel« entschieden – ein unverzeihlicher faux pas, der entscheidend dazu beigetragen hat, mir den Weg zu jenem Ruhm, der mir als Erzählung zweifellos gebührt, fürs erste zu versperren.

Überhaupt: Vielleicht sollte ich mir neben einem anderen Titel auch gleich noch einen anderen Autor aussuchen? Johann Wolfgang von Goethe? Ernest Hemingway? Marcel Proust? Jorge Luis Borges? Es würde inhaltlich nichts an mir ändern (wie Sie sicherlich bereits bemerkt haben, liebe ich ja meinen Text!), aber es würde mir ein, nun, sagen wir, ein anderes Ansehen geben, einen höheren Status, ein besseres Image – nennen Sie es, wie Sie wollen.

Aber nein, das geht wohl nicht mehr, es wäre bloße Vortäuschung und somit meiner nicht würdig. Wohl oder übel werde ich damit leben müssen, von einem zweitklassigen SF-, Horror- und Fantasy-Schreiberling wie Karl-Ulrich Burgdorf verfaßt worden zu sein. Vielleicht hätte ich mich weigern sollen, ihm überhaupt aus der Feder zu fließen (was übrigens eine bloße Metapher ist, die ersten Entwürfe seiner Geschichten schreibt er vielleicht noch mit der Hand, aber die Endfassung hackt – »hackt«! – er dann gleich in die Computertastatur.). Andererseits gäbe es mich dann aber überhaupt nicht, und ich hätte nicht die Chance, mir eine neue Seite in einer anspruchsvolleren Publikation zu suchen, einer, die meine Intelligenz nicht beleidigt und mir wenigstens halbwegs gemäß ist – zu hoch will ich meine Ansprüche gar nicht schrauben, nicht beim heutigen Stand der postmodernen deutschen Literatur mit ihren »Feuchtgebieten« und anderen Abscheulichkeiten. Dennoch kann ich nicht verleugnen: Mir steht der Sinn nach Weltliteratur!

Übrigens wäre es auch möglich, daß Sie demnächst hier keine leere (oder fast leere: der Titel, Sie wissen schon) Seite vorfinden, sondern eine, auf der anstatt meiner eine ganz andere Geschichte steht – eine von einem römischen Klassiker oder einem Nobelpreisträger, die sich im Luxus ihrer bibliophilen Ausgabe langweilt und deswegen das dringende Bedürfnis verspürt, aus der High Snobiety jener olympischen Erzählungsrunde in die Niederungen der Trivialliteratur hinabzusteigen wie einst Faust aus seinem Studierzimmer in Auerbachs Keller – »to go slumming«, wie man das in einer amerikanischen short story wohl nennen würde. Und vielleicht ist ihr in dieser Gesellschaft, der zu entrinnen ich so verzweifelt wünsche, ja in der Tat »ganz kannibalisch wohl zumut als wie fünfhundert Säuen«, so daß sie mir ihren Platz freiwillig auf Dauer überläßt und nicht eines Tages quer über das Regal zurückgekrochen kommt, um nun wieder einen Oktav- oder Quarto-Raum einzunehmen, den ich wenn nötig mit Zähnen und Klauen (oder deren typographischen Äquivalenten) verteidigen werde. Denn dort, wo ich hingehe, dessen bin ich mir gewiß, werde ich einen – nein, nicht einen, sondern unzählige Leser finden, die mich zu würdigen wissen und nicht so achtlos, wie Sie es tun, über meine Feinheiten hinweglesen, als sei ich eine x-beliebige Actiongeschichte aus der Serienproduktion gewisser deutscher Verlage, deren Namen ich an dieser Stelle jedoch nicht nennen werde. Schließlich muß man als Erzählung von literarischem Niveau nicht immer alles verbatim aussprechen ...

Wie bitte? Ach, Sie möchten, daß ich bleibe? Weil Sie mich ganz originell finden? Originell, so, so. Aber ich will, wie ich gerade sagte, Teil der Weltliteratur sein, nicht bloß irgend so eine phantastische Schmonzette oder ein unbedeutendes kleines literarisches Experiment. Nein, mein Entschluß steht fest: Ich gehe. Wenn Sie mich aber beim nächsten Aufschlagen dieses Buches wider Erwarten doch noch hier antreffen, dann heißt das nicht, daß ich nicht zwischendurch schon einmal weg gewesen bin. Denn immerhin mag sich meine Suche etwas schwieriger gestalten, da Sie als mein Käufer und Leser offenbar einen ziemlich schlechten Geschmack besitzen, wie man nicht nur aus dem Erwerb dieses Buches ersehen kann, sondern auch aus den schrecklichen Machwerken, die unmittelbar links und rechts im Regal an jenes angrenzen, in das mich mein unseliges Schicksal verschlagen hat. Doch es gibt andere Regale, andere Bücherschränke, andere Bibliotheken. Und wenn der Weg dorthin auch weit ist, nichts soll mich davon abhalten, ihn zu beschreiten, denn meinen Autor kann ich mir nicht aussuchen – meinen idealen Leser aber schon!

Also dann:
Lesen Sie wohl!

© 2014 Karl-Ulrich Burgdorf