Abenteuer Unterhaltung

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© Rainer Schorm / Verlag Dieter von Reeken

Jörg Weigand

Abenteuer Unterhaltung

Erinnerungen an 60 Jahre als Leser, Autor und Kritiker

Erschienen in der DvR-Buchreihe
des Verlags Dieter von Reeken
Dezember 2018

Klappenbroschur – 244 Seiten
(D) € 17,50
ISBN 978-3-945807-28-6

Als ich ihm (es war bei den Wetzlarer »Tagen der Phantastik« irgendwann in den 1980er Jahren) zum ersten Mal persönlich begegnete, da flößte dieser Mann mir einen Heidenrespekt ein: Autor, Anthologist, Kritiker, promovierter Sinologe und »so ganz nebenbei« auch noch ZDF-Redakteur, dabei meinungsfreudig und streit­bar, mit scharfem Witz und beißender Ironie ... Später, als ich ihn näher kennen­lernte, durfte ich dann auch die anderen Seiten an ihm entdecken: seine Freund­lich­keit, seine Hilfsbereitschaft, seine Loyalität gegenüber Freunden. Nur dumm durfte man ihm nicht kommen, dann wurde er zum loup garou, der aber glück­licherweise nur mit Worten um sich biß ...

Die Rede ist natürlich von Jörg Weigand, diesem Urgestein der deutschen Science Fiction und Phantastik. »Urgestein«? Nein, das ist wohl die falsche Metapher, denn unter einem Urgestein stellt man sich ja eher etwas Ruhendes und Unbewegtes vor. Und ruhend und unbewegt, das ist Jörg Weigand wirklich nicht! »Rollender Stein« würde sein Wesen vielleicht besser treffen, denn »a rolling stone gathers no moss«, und Moos hat er ganz gewiß nicht angesetzt; vielmehr ist er, auch wenn die Gesundheit manchmal nicht mehr so bereitwillig mitspielt wie früher, immer noch ebenso aktiv und tatendurstig wie damals, als ich ihn kennenlernte. Und das, obwohl er jetzt – genauer gesagt: am 21. Dezember 2018 – 78 Jahre alt wird.

Nachdem er gerade erst vor wenigen Wochen die erweiterte 2. Auflage seines Standardwerkes Träume auf dickem Papier herausgebracht hatte, in dem die Geschichte des deutschen Leihbuchwesens nach dem 2. Weltkrieg umfassend dargestellt ist, beschenkt er sich und uns nun zu seinem Geburtstag mit einer weiteren Veröffentlichung: nämlich seiner literarischen Autobiografie Abenteuer Unterhaltung. Erinnerungen an 60 Jahre als Leser, Autor und Kritiker, die in der DvR-Buchreihe des verdienstvollen Lüneburger Verlegers Dieter von Reeken erschienen ist.

Um sich an das Abenteuer des Schreibens einer Biografie heranzuwagen, braucht man neben einem Vorrat an Erlebnissen und Begegnungen, die es wert sind, erzählt zu werden, nicht nur Mut, sondern auch ein ausgeprägtes Ego. Das hat Jörg Weigand schon in frühester Kindheit und Jugend ausbilden müssen, und zwar als Abwehrmauer gegen die körperlichen und seelischen Angriffe eines gewalttätigen Vaters, der das Kind bei jeder Gelegenheit herabwürdigte und als unfähigen Versager hinstellte. Der kleine Jörg überstand das alles nicht zuletzt deshalb, weil sich ihm plötzlich eine Möglichkeit des Entkommens bot: die Flucht in die Phantasie. Er entdeckte, kurz gesagt, die Science-Fiction-Literatur für sich.

SF und Phantastik wurden von da an zu Leitthemen seines Lebens. Bald begann er selber, erste kleine Geschichten zu schreiben (bei der »kleinen« Form, der Kurz­geschichte oder Miniatur, ist er bis vor wenigen Jahren auch geblieben, nicht zuletzt, weil ihm seine Arbeit beim ZDF nicht die Zeit ließ, sich an längeren Texten zu erproben), und als es ihm später gelang, nicht nur in der Phantasie, sondern auch ganz real seinem Elternhaus zu entkommen und ein Stipendium des französi­schen Staates für ein Sprachenstudium in Paris zu erhalten, knüpfte er dort sogleich Kontakte zum französischen SF-Verlag Éditions Opta, der das einflußreiche Magazin Fiction herausbrachte. Aus diesem Kontakt entwickelte sich auch sein erster Versuch, eine Anthologie französischer SF an einen deutschen Verlag – den Marion-von-Schröder-Verlag in Hamburg – zu verkaufen; ein Versuch, der allerdings in einem nicht von ihm verschuldeten Fiasko endete. Dazu erzählt Jörg Weigand eine Geschichte, die ein unbedarfter Leser vielleicht mit dem Etikett »unglaublich« versehen wird; jeder, der sich über Jahre oder gar Jahrzehnte in den Niederungen des deutschen Verlagswesens herumgetrieben hat, würde dafür hingegen wohl eher das Etikett »unglaublich, aber wahr« oder, noch treffender, »unglaublich, aber leider wahr« wählen. Die Lektorin, mit der er sich in Hamburg traf, fand nämlich, »einige Autorennamen klängen zu germanisch-deutsch (Charles Henneberg, Gérard Klein, Daniel Walther), da müsste Abhilfe geschaffen werden, sonst könne die Anthologie nicht erscheinen«. (Abenteuer Unterhaltung, Seite 31) Glücklicherweise ließ Jörg Weigand sich nicht darauf ein, und seine Anthologie erschien schließlich in nur geringfügig abgeänderter Form in zwei Bänden bei Heyne – der Beginn einer erfolgreichen Karriere als Anthologist, während der er französische SF- und Phantastik-Autoren dem deutschen Publikum und deutsche Autoren dieser Genres dem französischen Publikum nahebrachte.

Solche Geschichten der Kategorie »unglaublich, aber leider wahr« gibt es in Abenteuer Unterhaltung zuhauf, und Jörg Weigand scheut sich in der Regel nicht, die Namen der beteiligten Personen zu nennen, auch wenn er im Falle der MvS-Lektorin höflicherweise einmal darauf verzichtet hat. Das ist durchaus eine der großen Stärken dieses Buches, denn Subjektivität ist nun einmal das Vorrecht des Autobiografen, und die Sträuße, die der Autobiograf Jörg Weigand einstmals ausgefochten hat, ergeben einen wunderbar süffigen Lesestoff, der es schwer macht, das Buch wieder aus der Hand zu legen, nachdem man einmal begonnen hat, darin zu lesen.

Nicht unerwähnt bleiben darf neben seinen Verdiensten als Anthologist und Autor auch seine langjährige Tätigkeit als Literaturdetektiv. In meiner Phantasie sehe ich ihn vor mir, wie er sich als literarischer Humphrey Bogart mit hochgeschlagenem Trenchcoat-Kragen durch die düster verschatteten, vom Müll des Trivialen verunreinigten Straßen der Unterhaltungsliteratur kämpft, in übel beleumundeten Verlagskaschemmen hartnäckig unliebsame Fragen stellt und am Ende dank seines überragenden Spürsinns auf den Autor X zugeht, um ihm die Pistole auf die Brust zu setzen und ihn zu dem Geständnis zu zwingen, manche seiner Werke auch unter den Pseudonymen Y und Z veröffentlicht zu haben ... Nun gut, ganz so dramatisch mag es nicht zugegangen sein, und eine Pistole hatte Jörg Weigand natürlich auch nie dabei, aber ein Schuß ist durchaus einmal gefallen, nämlich, als der ebenfalls pseudonym-entlarvte Westernsachbuch-Autor H.J. Stammel, um eine Widmung gebeten, stattdessen zunächst mit einem Colt eines seiner Werke durchschoß und die Patronenhülse anschließend in das Schußloch hämmerte – die Widmung schrieb er dann außen auf das Cover des dadurch unlesbar gewordenen Buches ... (Abenteuer Unterhaltung, Seite 135)

Ausbeute dieser literaturdetektivischen Ermittlungen waren ein Pseudonyme-Lexikon, das – inzwischen beinahe vergriffen – auch heute noch für jeden ernst­haften Forscher auf dem Gebiet der Unterhaltungsliteratur unverzichtbar ist, und natürlich (sozusagen als pièce de résistance) Jörg Weigands persönlicher Triumph: nämlich die Entlarvung jenes großen Unbekannten, der für den Bastei-Verlag die legendäre Figur des FBI-Agenten Jerry Cotton erfand und die ersten Romane der gleichnamigen Endlosserie schrieb. Nachzulesen in »Die Welt« vom 6. Mai 1998 und nun auch in Abenteuer Unterhaltung (Seite 185 ff).

Beim Niederschreiben dieses letzten Satzes ist mir plötzlich ganz wehmütig ums Herz geworden, denn (gestehen wir es uns ein) diese Autobiografie, deren Titel nicht treffender gewählt sein könnte, ist zugleich auch ein Abgesang – ein Abgesang auf eine bunte und wahrhaft abenteuerliche Unterhaltungsliteraturszene, die so nicht mehr lange existieren wird (wenn sie es denn überhaupt noch tut), da im Zeitalter einer zunehmenden Verlagskonzentration auch die Literaturproduktion immer stromlinienförmiger wird. Wer in eine Buchhandlung geht (sofern es in dem Ort, an dem er oder sie wohnt, überhaupt noch eine gibt), wird dort im Bereich der Unterhaltungsliteratur überwiegend nur noch solche literarischen Waren vorfinden, denen es an Originalität mangelt, weil sie auf bestimmte »slots« hin geschrieben worden sind, um möglichst genau den vermuteten Geschmack ihrer jeweiligen Leser zu treffen. Zugleich schreitet auch die Akademisierung des Literatur- und Kulturbetriebs immer weiter voran, und bald wird es wohl jene herrlich eigen­sinnigen Selfmade-Autoren und -Autorinnen nicht mehr geben, die die Unterhal­tungs­literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so faszinierend machen. An ihre Stelle wird eine neue Generation treten, die, mit einem Abschluß in der Tasche, am allzu kurzen Gängelband der Lektoren nur noch das schreibt, was die großen Literaturkonzerne ihren Lesern aufzuoktroyieren wünschen. Was für eine schöne neue Welt! Und wie schrecklich langweilig!

Also: Lesen Sie diese Autobiografie. Langweilen werden Sie sich, das verspreche ich Ihnen, keine Sekunde lang.

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© Rainer Schorm / Schillinger-Verlag

Herbert W. Franke und Jörg Weigand

Astropoeticon

Science Fiction-Gedichte
& Weltraummusik

Erschienen im
Schillinger-Verlag 2017
CD – Gesamtspieldauer 28:29
(D) € 11,80
ISBN 978-3-89155-401-2

Im Schlußkapitel seiner Autobiografie Abenteuer Unterhaltung schildert Jörg Weigand, wie er erst im Rentenalter neben der Literatur noch eine zweite große Leidenschaft entdeckte: die Musik. Er begann Klavier zu spielen, komponierte erste Stücke – und das Ergebnis erschien nicht nur in gedruckter Form als Noten­büch­lein, sondern zu einem kleinen Teil auch auf seiner ersten CD Astropoeticon. Science Fiction-Gedichte & Weltraummusik, für die er sich mit einem anderen »Großen Alten« der deutschen SF zusammentat, nämlich Herbert W. Franke. Franke selbst liest seine spröden, hochgradig technizistischen Gedichte zur Musik­untermalung Jörg Weigands, die dieser nach eigenem Bekunden »wie in Trance spielte«. Daran schließt sich dann eine Instrumentalversion derselben »Weltraum­musik an« – ein wunderbar entspanntes Werk, das, auch wenn es sich durchweg europäischer Harmonik bedient, seine Nähe zum fernöstlich Meditativen nicht verleugnen kann. Ob man es aber wirklich als »Weltraummusik« ansehen mag, sei dahingestellt – auf manche Hörer habe es, wie mir Jörg Weigand einmal schrieb, genau so gewirkt; andere Hörer hingegen, die mit den elektronischen Theremin-Sounds der amerikanischen SF-B-Pictures der 1950er Jahre oder mit den Sphären­klängen der Band Pink Floyd auf ihrem 1968er Album A Saucerful of Secrets auf­gewachsen sind, werden es womöglich anders empfinden. – Einziges (geringes) Manko der CD: Die Texte Herbert W. Frankes hätte man sich in einem kleinen Booklet abgedruckt gewünscht, um sie über den Höreindruck hinaus noch einmal nachlesen zu können.

Inzwischen ist bereits eine zweite CD in Arbeit, und ich hoffe sehr, daß darauf neben seinem Werk Route vers l'eternité, das er zum Gedenken an seinen unlängst verstorbenen Freund Daniel Walther schrieb, auch sein erschütterndes Chankiri Tree. Der Kinderbaum. Ein kambodschanisches Requiem oder seine Lieder zu Gedichten von Hans Sahl (1902-1993) zu hören sein werden.

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© Privat

Ja, ich weiß, man soll nicht vorab gratulieren, aber vielleicht liest Du das hier ja erst nach Deinem Geburts­tag ... Also: Herzlichen Glückwunsch, lieber Jörg, und mögen Dir noch viele Jahre voller Liebe, Freude, literarischer Schaffenskraft und Musik vergönnt sein!

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