Rezensiert: Thomas Le Blanc, Karla Weigand,
Maike Braun, Rainer Eisfeld

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Thomas Le Blanc

Meine kurze Ehe mit Dornröschen. Moderne Märchen

Eigenverlag Thomas Le Blanc
Paperback · 280 Seiten
€ 15,00 plus € 3,00 Versand

© Titelgrafik unter Verwendung eines Bildes von reignnel über www.pexels.com

Daß Thomas Le Blanc ein Urgestein der deutschen Science-Fiction- und Phantastik-Szene ist, dürfte allgemein bekannt sein. Schließlich hat er nicht nur in Zusammen­arbeit mit Bettina Twrsnik die Phantastische Bibliothek in Wetzlar aufgebaut, deren Leiter er heute ist, sondern er war auch der Herausgeber der zehn bei Goldmann erschienenen "Sternenanthologien" mit Geschichten ausschließlich deutscher Autorinnen und Autoren; außerdem gibt er derzeit im Karl-May-Verlag die Reihe "Karl Mays Magischer Orient" heraus. Für sein Lebenswerk im Fantasy-Genre wurde er 2016 auf dem Buchmessencon ausgezeichnet. 2017 erhielt er darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis. Und als wäre das noch nicht genug, wurde er 2019 auch noch in den Zukunftskreis beim Bundesministerium für Bildung und Forschung berufen.

Was man darüber jedoch leicht vergißt, ist die Tatsache, daß es sich bei ihm auch um einen exzellenten – und vor allem: sehr humorvollen! – Autor handelt. Das beweist er nach zahlreichen Kurzgeschichten in der inzwischen 63 Hefte zählenden Reihe der "Phantastischen Miniaturen" aufs Neue mit dem vorliegenden Band mit seinen 48 "modernen Märchen", in dem er die Märchen der Gebrüder Grimm auf köstliche Weise gegen den Strich bürstet.

Kostprobe gefällig? In der Titelgeschichte muß der diesmal als Ich-Erzähler auftre­tende Prinz rasch bemerken, daß Dornröschen sich als alles andere als eine Traum­frau entpuppt. Sie ist zickig, parliert mit ihrem Pudel und ihrem Papagei auf Franzö­sisch und erleidet regelmäßig heftige Migräneanfälle, wenn der Prinz sich ihr in erotischer Absicht zu nähern versucht. Mit Hilfe der drei Feen, die zur Vermählung erscheinen, gelingt es ihm am Ende, das ganze Märchen wieder auf Anfang zu stellen: "... und schwupps stand ich wieder draußen vor der geschlossenen Dornenhecke. Diesmal ging ich einfach drumherum."

Ein hübscher Trick, den Thomas Le Blanc in einigen der Erzählungen verwendet, ist auch, die Tore zwischen der Menschen- und der Märchenwelt ein wenig durch­lässiger zu machen. Das kann dann etwa dazu führen, daß ein Sohn von König Drosselbart, eine Elfe und vier Schrate an der Universität Marburg studieren, das Wirtshaus im Spessart Zugänge für Kundschaft aus beiden Welten erhält oder daß Personen aus der Menschenwelt den technologischen Fortschritt (?) in die Märchen hineintragen, so daß aus Eisenhans plötzlich Recyclinghans wird oder die Heinzel­männchen sich in Heinzelroboter verwandeln ...

Kurz: Wenn man etwas für teils recht schrägen Humor übrig hat, dann gibt es in dieser Sammlung jede Menge zu lachen. Aber der Autor kann auch ganz anders. In der sehr anrührenden Geschichte "Drachendämmerung" stellt eine junge Studentin fest, daß im Gebiet des hessischen Vogelsbergs noch Drachen leben. Genauer gesagt: nur noch zwei, da die Rasse im Begriff ist auszusterben. Von der Existenz dieser Drachen weiß allerdings nur der jeweilige hessische Ministerpräsident, dem es jeweils unter dem Siegel der Verschwiegenheit von seinem Amtsvorgänger anvertraut wird.

Mit einem der beiden Drachen, Fen, freundet sich die junge Frau an. Über ihn lernt sie dann auch den anderen Drachen, Trorrh, kennen. Trorrh allerdings liegt im Sterben, so daß bald nur noch der trauernde Fen übrig sein wird als allerletztes Exemplar seiner Art. Und dann trägt der Ministerpräsident, der ebenfalls Zeuge von Trorrhs Tod geworden ist, eine Bitte an die junge Frau heran: "Ich weiß, daß ich das von Ihnen nicht einfordern kann, ich kann Sie nur darum bitten: Bleiben Sie bei ihm für den Rest Ihres Lebens. Er wird sie zwar um ein, zwei Jahrhunderte über­leben, aber er braucht Sie, um sich in der Welt heute zurechtzufinden und um nicht an Einsamkeit zugrunde zu gehen." Und die Geschichte schließt: "Dann ging er und ließ sie allein. Allein mit dem einsamsten Drachen der Welt."

Vielleicht bin ich ja allzu sentimental, aber bei dieser Geschichte habe ich dann doch ein paar Tränchen verdrückt.

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Erhältlich ist dieser wunderbare Band entweder bei der Phantastischen Bibliothek Wetzlar oder direkt per E-Mail-Bestellung:

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Karla Weigand

Kommissar Lavalle und der Seinemörder

Historischer Roman aus der Zeit Ludwigs XVI., nach einem wahren Kriminalfall

Verlag p.machinery 2022
Reihe "Zwischen den Stühlen" 2
Paperback – 332 Seiten
€ 14,90
ISBN: 978-3-95765-273-7

Titelbild:
© p.machinery unter Verwendung des Gemäldes "La Prise de la Bastille" von Jean-Pierre Louis Laurent Houëll (1789)

Mit ihrem neuesten historischen Roman, der zu Beginn der französischen Revolution 1789 spielt, begibt sich Karla Weigand diesmal auf kriminalistisches Terrain. Und das tut sie – das sei gleich vorausgeschickt – nicht nur auf äußerst spannende Weise, sondern auch mit der ihr eigenen Genauigkeit in der Beschreibung des histo­rischen Hintergrundes. Und in diesem Fall heißt das: Mit einem äußerst grim­migen Realismus.

Während die Einwohner von Paris hungern, veranstaltet Ludwig XVI. draußen in Versailles sogenannte "Schauessen". Arrangiert werden diese vom "Grand Maitre de la Maison du Roi", Monsieur Alfonse, Comte de Montmorency, einem absolut wider­wärtigen Patron, der sich stets einen "Liebling" unter den Küchenjungen erwählt und diesen dann auf schauderhafteste Weise vergewaltigt, was für den weiteren Verlauf der Handlung noch von Wichtigkeit sein wird.

Die eigentliche Hauptperson des Romans ist indes Kommissar Armand Lavalle, ein pflichtbewußter Beamter der Polizei von Paris, der sich neben dem Alltagsgeschäft auch noch mit einer Mordserie herumschlagen muß, die Paris seit Monaten in Atem hält. In der Seine werden nämlich immer wieder verstümmelte Leichen gefunden, deren Gesichter ihr Mörder gehäutet hat, damit niemand diese bedauernswerten Opfer wiedererkennen kann. Und so ganz nebenbei hat Lavalle auch noch ein Privatleben. Seit längerer Zeit ist er mit Régine Madrier, genannt Ginette, verlobt, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in der Altstadt von Paris lebt. Sie zu heiraten, hat er sich indes bisher gescheut, da er glaubt, sein Einkommen sei nicht ausreichend, um einen Hausstand zu gründen. Also wartet er von Woche zu Woche immer hoffnungsloser auf eine Beförderung, die seine finanziellen Verhält­nisse auf einen Schlag verbessern würde. Aber diese Beförderung will und will nicht erfolgen.

Was Lavalle allerdings nicht ahnt, weil er den Kopf angesichts seiner Arbeit einfach nicht frei bekommt: Ginette erwartet ein Kind von ihm und denkt darüber nach, es abzutreiben, weil sie wegen der ausbleibenden Hochzeit allmählich beginnt, an Lavalles Liebe zu ihr zu zweifeln. In letzter Sekunde –‍ Ginette hat schon eine Engel­macherin aufgesucht – erfährt Lavalle davon, befreit sie aus den Klauen dieser schmut­zigen Person, deren abscheuliche "Praxis" Karla Weigand beängstigend realistisch beschreibt, und heiratet sie praktisch auf der Stelle, allen finanziellen Bedenken zum Trotz.

Inzwischen ist wieder ein Opfer des Seinemörders aufgefunden worden – ein junger Mann mit einer Tätowierung und einer verstümmelten Hand. Bei seinen Recherchen setzt Lavalle nun auf die Hilfe einer alten Säuferin und Hure, Mère Brassens, die sich bestens in den Slums von Paris auskennt und sich gerne von ihm mit einem guten Glas Wein für ihre Informationen bezahlen läßt. Tatsächlich wird sie es sein, die ihm später den entscheidenden Hinweis gibt, durch den dieses Opfer identifi­ziert werden kann.

Parallel zu Lavalles Ermittlungen spitzt sich die Lage in Paris immer mehr zu. Der Hunger ist so groß geworden, daß eine Mutter sogar begonnen hat, nacheinander ihre Kinder zu schlachten, wobei sie sich natürlich zuerst den Ältesten vorgenom­men hat, "weil der am meisten Fleisch am Leibe hatte". Nur eines der Kinder kann Lavalle noch retten; alle anderen sind längst gebraten und gesotten worden.

Und dann bricht tatsächlich die Revolution los, die sich schon lange angekündigt hatte. Paris wird zu einem höchst gefährlichen Pflaster für alle, die nicht so aus­sehen, als würden sie zum revolutionären Pöbel gehören. Nach dem Sturm auf die Bastille landen besser gekleidete Bürger rasch schon einmal an der nächsten Laterne. Der Lynchmob tobt durch die Straßen! Zu Lavalles Aufgaben gehört es nun zu allem Überfluß auch noch, öffentliche Gebäude in Paris und den König draußen in Versailles zu beschützen. Ginette hat er inzwischen aufs Land geschickt, um sie in Sicherheit zu wissen.

In dem ganzen Chaos findet er aber auch noch die Zeit, dem Seinemörder eine Falle zu stellen. Der Köder darin ist – er selbst!

Inzwischen haben sich seine Ermittlungen nämlich auf eine Metzgerei konzentriert, die direkt am Ufer der Seine liegt. Hier kommt es dann auch zum entscheidenden Kampf gegen die menschliche Bestie, der es den Höhepunkt an sexueller Lust bereitet, einen jungen Mann nach dem anderen abzuschlachten. Welche Rolle einer der "Lieblinge" von Monsieur Alfonse, Comte de Montmorency, in diesem Zusam­men­hang spielt, sei an dieser Stelle aber natürlich nicht verraten. Das müssen Sie schon selber in diesem Roman lesen, den ich jedem Freund perfekt recherchierter historischer Krimis nur wärmstens ans Herz legen kann.

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Maike Braun

Dächer

Phantastische Miniaturen, Band 60
Verlag Phantastische Bibliothek Wetzlar
März 2022 · 78 Seiten

© Titelbild: Phantastische Bibliothek Wetzlar unter Verwendung einer rechtefreien Grafik der NASA

In der Reihe der "Phantastischen Miniaturen" aus der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, die Stand Mai 2022 inzwischen bereits 63 Hefte umfaßt, hat sich vor einiger Zeit eine kleine Unterreihe etabliert, deren Ziel die Errichtung eines Hauses zu sein scheint. Eines Hauses? In der Tat! Begonnen mit dem Bau hat im Januar 2020 Sabine Frambach mit ihrem Band "Türen", gefolgt von Alexander Röders Band "Fenster" im September 2020 (siehe dazu auch die Rezensionsstrecke vom 24. Okto­ber 2020). Und nun liegt mit Maike Brauns "Dächer" schon ein dritter Band vor. Zu mutmaßen ist, daß eines Tages auch noch die Außen- und Innenwände folgen werden ...

Den Begriff "Dächer" hat Maike Braun sehr weit ausgelegt. In ihrer Story-Collection geht es nämlich nicht nur um diese, sondern auch um Kuppeln und Zelte, die man ja auch als eine Art von Dächern auffassen kann.

Die SF-Stories, aus denen sich der Band zusammensetzt, spielen teils auf der Erde, teils auf dem Mars, teils aber auch im Asteroidengürtel oder auf einer Fremdwelt in einem weit entfernten Sonnensystem. Zusammengenommen bilden sie indes so etwas wie einen kleinen Episodenroman, denn Maike Braun hat es auf wunderbare Weise verstanden, alle Geschichten auf die eine oder andere, stets raffinierte Art und Weise miteinander zu verknüpfen. Das ist Science Fiction vom Allerfeinsten, wie ich sie lange nicht mehr gelesen habe. Man würde sich wünschen, daß die Autorin dieses schmale Bändchen eines Tages zu einem richtig großen Episoden­roman ausbaut. Aber vielleicht ist ja gerade diese kleine Form die perfekte? Lesen Sie den Band doch einfach und urteilen Sie dann selbst!

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Neben seinen Publikationen "Rock'n'Roll und Science Fiction. Wie die Bundes­republik modern wurde" und "Die Zukunft in der Tasche. Science Fiction und SF-Fandom in der Bundesrepublik – Die Pionierjahre 1955-1960", die ich kürzlich vor­gestellt habe, hat Rainer Eisfeld im Verlag Dieter von Reeken noch zwei weitere Textsammlungen zur Science Fiction vorgelegt, die ich heute besprechen möchte.

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Rainer Eisfeld

Abschied von Weltraumopern

Science Fiction als Zeitbild und Zeitkritik. Kommentare aus 25 Jahren

Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke und einem Beitrag von Jörg Weigand

Verlag Dieter von Reeken 2011
Paperback · 164 Seiten
€ 17,50
ISBN: 978-3-940679-47-5

© Titelbild: Verlag Dieter von Reeken unter Ver­wendung eines Ausschnitts aus dem von Allen Anderson gezeichneten Titelbild des amerikani­schen SF-Magazins "Planet Stories" vom Februar 1950

Teil I:
Das "Spinrad"-Gutachten, die Bundesprüfstelle und Bert Brecht
(1983-1987)

Im ersten Teil dieser Textsammlung geht es um eine "cause célèbre", die von 1983 bis 1987 die deutsche SF-Szene bewegte, nämlich Norman Spinrads in Amerika bereits 1972 erschienenen Roman "The Iron Dream" (dt. als Heyne-TB 3783 unter dem Titel "Der stählerne Traum"). Bereits kurz nach Erscheinen wurde dieser Roman auf den Index gesetzt, ohne daß das zuständige Gericht weiter auf die Einwände der beiden von ihm bestellten Gutachter eingegangen wäre. Bei diesen Gutachtern handelte es sich zum einen um den an der Universität Osnabrück leh­ren­den Politikwissenschaftler Prof. Dr. Rainer Eisfeld und zum anderen um Dr. Dietrich Wachler, damals Leiter der Bibliothek der Fachhochschule Münster. Dessen Gutachten und seine scharfe und sehr geistreiche Gerichtsschelte angesichts der Indizierung hätte ich sehr gerne auch in das kürzlich von mir herausgegebene "Lesebuch Dietrich Wachler" aufgenommen. Aus Gründen des Umfangs war dies jedoch leider nicht möglich.

Der Antrag auf Indizierung, der vom damaligen niedersächsischen Kultusminister Werner Remmers gestellt worden war, wird natürlich nur durch den Inhalt des Romans verständlich, auf den ich darum an dieser Stelle kurz eingehen möchte. Der jüdisch-amerikanische Autor Norman Spinrad erzählt darin in Form einer fikti­ven Kurzviografie, wie der in Wien als Kunstmaler gescheiterte Adolf Hitler nach Amerika auswandert und dort bald zum Schundromanautor wird. Den Hauptteil des Romans macht allerdings ein Werk eben dieses Schundschreibers Adolf Hitler aus, betitelt "Herr des Hakenkreuzes", in dem Hitler "literarisch" statt in der Wirklichkeit unverblümt seine gewalttätigen und rassistischen Vorstellungen auslebt.

In seinem Gastbeitrag "Hitler, Jaggar und die Folgen", der zuerst im Heyne Science Fiction Magazin 3/1983 erschien, stellt Jörg Weigand ausführlich die beiden Gut­achten und ihre Ablehnung durch das zuständige Gericht vor. 1987 hatte sich die Situation dann grundlegend verändert, denn eine höhere Instanz hatte inzwischen entschieden, daß der sogenannte "Kunstvorbehalt" für jede Form von Kunst zu gelten habe und nicht nur für Werke der Hochkultur. Mehr darüber erfährt man aus Rainer Eisfelds zuerst im Mai 1987 in der Science Fiction Times 29 erschienenen Aufsatz "Bert Brechts Glanz fällt auf Spinrad: Die Indizierung ist vom Tisch."

Teil II:
Die dunkle Seite von Raumfahrt und technischem Fortschritt
(1989-1994)

Im zweiten Teil dieser Textsammlung widmet sich Rainer Eisfeld einer Reihe von Themen und Personen, und zwar unter dem bereits in der Überschrift genannten Aspekt. Der erste Aufsatz "Frau im Mond: Technische Vision und politisches Zeitbild (1989)" beschäftigt sich mit Fritz Langs Film nach dem Roman "Frau im Mond" seiner Frau Thea von Harbou. Rainer Eisfeld hat diesen Roman seinerzeit für den Heyne-Verlag neu herausgegeben; bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um sein Nachwort zur Neuausgabe.

Weiter geht es mit einem Aufsatz über eine der erschütterndsten Horrorstories der Neuzeit, nämlich Fritz Leibers "Expresszug nach Belsen", die von den paranoiden Ängsten seines Protagonisten George Simister handelt, in ein Konzentrationslager wie Bergen-Belsen eingeliefert zu werden. Entstanden ist Eisfelds Text anläßlich der Wiederveröffentlichung von Leibers Erzählung im Heyne Science Fiction Jahr 8.

Danach folgt der Aufsatz "Raumfahrt als Schreckensvision bei Ray Bradbury und Nigel Kneale", erschienen erstmals 1972 im Heyne Science Fiction Jahr 7. Hier geht es einerseits um die Erstfassung der raumfahrtkritischen Geschichte "Rocket Summer" von Ray Bradbury, die später in extrem veränderter Form Aufnahme in seine "Mars-Chroniken" fand, während die Erstfassung bis heute nie wieder neu aufgelegt wurde und nur in der Frühjahrsausgabe 1947 des längst vergessenen Magazins Planet Stories zu finden ist. Darüber hinaus beschäftigt sich Eisfelds Aufsatz aber auch mit der englischen Fernsehserie "The Quatermass Experiment" vom in Deutschland weitgehend unbekannten britischen Autor Nigel Kneale, die später zur Vorlage eines gleichnamigen Spielfilms wurde, welcher in Deutschland 1956 unter dem Titel "Schock" herauskam. Sowohl die Fernsehserie als auch der Spielfilm stehen der Raumfahrt ebenfalls sehr kritisch gegenüber. Anlaß für den vorliegenden Aufsatz war ein Jubiläum, nämlich 30 Jahre bemannter Raumflug.

Abgerundet wird dieser Teil durch eine Laudatio auf den Zukunftsforscher Robert Jungk: "'Wissender' anstelle sozial 'blinden' Fortschritts: Über Robert Jungk", eine Rede, die Rainer Eisfeld anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Robert Jungk durch die Universität Osnabrück am 12.1.1993 gehalten hat; später ist sie auch im Heyne Science Fiction Jahr 9 erschienen.

Teil III:
"Die schwachen Feuer, die der Mensch entzündet": Möglichkeiten und Grenzen des Genres (1986-2008)

Daß Rainer Eisfeld sich seit jeher ganz besonders für das Werk des kanadischen Autors A. E. van Vogt interessiert hat, ist inzwischen wahrscheinlich allgemein bekannt. Bereits als 17-jähriger übersetzte er Werke von ihm, so etwa "Welt der Null-A" und "Kosmischer Schachzug" für die Leihbuchreihe "Bestseller des Kosmos" im Gebr.-Zimmermann-Verlag. Auch später ließ ihn die Beschäftigung mit van Vogt nicht mehr los, was daran zu erkennen ist, daß er neben seiner Tätigkeit als Hoch­schullehrer die inzwischen zur Trilogie angewachsenen Null-A-Romane für die Heyne-Bibliothek der Science Fiction neu übersetzte und herausgab. Und so wun­dert es nicht, daß sich in diesem dritten Teil gleich zwei Aufsätze zu A. E. van Vogt finden – einer davon trägt den Titel "Die politischen Visionen A. E. van Vogts"; der andere ist ein Nachruf auf den im Jahre 2000 verstorbenen Autor.

In Anbetracht der Tatsache, daß die alte Garde der Autoren aus dem Goldenen Zeitalter der amerikanischen Science Fiction inzwischen ausstirbt, finden sich in dieser Rubrik beinahe zwangsläufig noch weitere Nachrufe, so auf den 1993 ver­storbenen Chad Oliver, dessen Romane Rainer Eisfeld nicht nur wegen dessen warmherzig-humanistischen Art stets besonders angesprochen haben. Aufgefallen war Oliver ihm nämlich schon vor dessen Zeit als Autor als wunderbar flapsig-humorvoller Verfasser von Leserbriefen, die er an die Herausgeber diverser damali­ger Magazine richtete. Ein anderer Autor, den Rainer Eisfeld immer sehr geschätzt hat und der zufällig auch zu meinen Lieblingsautoren zählt, ist übrigens Eric Frank Russell, über den Eisfeld leider nie etwas geschrieben zu haben scheint – und wenn doch, dann findet es sich nicht in dieser und der nachfolgend besprochenen Sammlung.

Nachrufe sind auch die Texte "'Es ist gut, dass wir von neuem träumen lernen ... Die Raumfahrt hat wieder Kinder aus uns gemacht': Über Carl Sagan", der 1996, und "Zur Entwicklungsfähigkeit von Menschen und von Literaturgattungen: Über Jack Williamson", der 2006 verstarb. Und beinahe so etwas wie ein – verspäteter – Nachruf ist auch der letzte Text dieser Sammlung, der sich um "Hugo Gernsback und die Anfänge deutscher Science Fiction" dreht. Rainer Eisfeld, damals gerade 17 Jahre alt, ist dem legendären 74-jährigen "Erfinder" der Science Fiction im Sommer 1958 während dessen Besuch in Westdeutschland sogar einmal persönlich begegnet, wovon ein gemeinsames Foto der beiden zeugt, das heute auf dem Cover von "Die Zukunft in der Tasche" zu bewundern ist. An diese Frühzeit der Science Fiction in Deutschland erinnert Rainer Eisfeld sich auch heute immer noch gern, aber mit einer gewissen Wehmut zurück:

"Nicht anders als Hugo Gernsback glaubten wir an Atomkraft und Raketen. Atom­kraft verhieß unbegrenzte Energie. Raketen versprachen Befreiung von den klein­lichen Konflikten der Erde. Niemand hat unsere Sehnsucht seinerzeit in so anrüh­rende Worte gekleidet wie Arthur C. Clarke 1951 in seinem Roman "Die Erde läßt uns los":

'Der Ansturm auf fremde Welten würde die erstickenden Zwänge wegfegen, die ein halbes Jahrhundert vergiftet hatten. Angst und Not des zweiten finsteren Mittel­alters hinter sich lassend, heraustretend – oh, wäre es für immer! – aus den Schatten von Bergen-Belsen und Hiroshima, kreiste die Erde ihrem strahlendsten Sonnenaufgang entgegen.'

Das neue, bessere Zeitalter ist bekanntlich ausgeblieben, die Aufbruchstimmung zerronnen. Den unbefangenen Optimismus jener Jahre, fürchte ich, haben wir unwiderruflich eingebüßt."

Ergänzt wird der überaus lesenswerte Band durch 20 Bildseiten, davon 12 in Farbe und 8 in Schwarzweiß.

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Rainer Eisfeld

Zwischen Barsoom und Peenemünde

Von den eingebildeten "Landschaften" des Mars bis zu den zerbröckelnden Mythen der V-2-Konstrukteure

Verlag Dieter von Reeken 2014
Paperback · 216 Seiten
€ 20,00
ISBN: 978-3-940679-89-5

© Titelbild: Verlag Dieter von Reeken unter Verwendung des von H. J. Bruck gezeichneten Titelbildes des Utopia-Großbands 31 © Pabel-Moewig KG – mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Die zweite Sammlung mit Texten von Rainer Eisfeld, "Zwischen Barsoom und Peenemünde", deckt ein besonders breites Spektrum an Themen ab. Sie gliedert sich in fünf große Unterkapitel, eine Gliederung, der ich bei meiner Besprechung ebenfalls folgen möchte.

Teil I:
Nach Barsoom – und weiter:
Annäherungsversuche an einen großen Kosmos

Barsoom – welcher SF-Fan denkt bei diesem Namen nicht sofort an Edgar Rice Burroughs’ Abenteuerserie über John Carter, der auf mysteriöse Weise auf den Mars ("Barsoom" in der Sprache der Einheimischen) versetzt wird?

Aber Rainer Eisfeld beginnt seine Exkursion zum Roten Planeten nicht mit Burroughs (eine Diskussion seiner Marsromane und vieler anderer literarischer Werke zum Thema "Mars" folgt im zweiten Aufsatz), sondern mit Ray Bradbury, dem Verfasser der berühmten "Mars-Chroniken". In "Siedler an fremder Grenze. Ray Bradbury, Sänger des amerikanischen 'Dranges nach draußen'" beschreibt Eisfeld sehr einfühlsam Bradburys Werdegang und die für SF-Verhältnisse unge­wöhnlich poetische Qualität seiner Texte.

Der zweite Aufsatz – "Wandlungen eines imaginären Mars. Wie der menschliche Geist 'Szenarien' auf andere Welten projiziert" – handelt von den verschiedenen Stadien ebendieser Projektionen durch die Autoren der Science Fiction. Der dritte Aufsatz schließlich – "Expansion in den Kosmos – Heilserwartungen aus dem Kosmos. Das Weltall als Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste" – fußt auf Gedanken, die Rainer Eisfeld gemeinsam mit Wolfgang Jeschke erstmals im 2003 bei Droemer erschienenen Band "Marsfieber: Aufbruch zum Roten Planeten – Phantasie und Wirklichkeit" entwickelte.

Teil II:
Science Fiction in ihrer Zeitgebundenheit

Daß Science Fiction immer aus einer bestimmten historischen Situation heraus entsteht und ihre Romane und Kurzgeschichten darum zwangsläufig Spuren ihrer jeweiligen zeitlichen Umfeldes enthalten müssen, ist inzwischen längst unstrittig. In "Oswald Spenglers 'Untergang des Abendlandes' und A. E. van Vogts 'Expedition der Space Beagle'" zeigt Rainer Eisfeld sehr klug die Zusammenhänge zwischen Spenglers geschichtsphilosophischem Werk und van Vogts berühmten Roman.

Ein zweiter Aufsatz – "Arthur C. Clarke und die 'verrückten Jahre' britischer Science Fiction" – handelt keineswegs nur von Arthur C. Clarke, sondern beschreibt zudem detailliert den Anteil britischer SF an den ersten deutschen Heft- und Taschenbuch­reihen sowie Nigel Kneales TV-Hit "Quatermass Experiment" von 1953, ein frühes Beispiel für – so Eisfeld – intelligenter, d.h 'erwachsener’ SF, wie sie im deutschen Fernsehen erst viele Jahre später mit der "Raumpatrouille Orion" auftauchen sollte.

Als dritten Text schließlich findet sich hier – wohl als Anschmecker, will sagen: Kaufanreiz – noch einmal die Vorrede zu "Die Zukunft in der Tasche".

Teil III:
Kostproben übersetzter Science Fiction aus den glorreichen Tagen von "Astounding" und "Galaxy", von "Utopia" und "Terra"

Rainer Eisfeld war nicht nur ein Fan der ersten Stunde, sondern hat sich auch bereits in sehr jungen Jahren als SF-Übersetzer renommierter Autoren wie Clifford D. Simak, Isaac Asimov, A. E. van Vogt, Fredric Brown, Jack Williamson, Marion Zimmer Bradley oder Henry Kuttner betätigt. Etliche dieser Übersetzungen erschie­nen in den Utopia-Reihen, andere in denen bei Terra und die Marion Zimmer Brad­ley-Übersetzung im Leihbuch. In diesem Teil beschreibt Eisfeld den Inhalt der von ihm übersetzten Romane und liefert dazu auch gleich Textproben.

Teil IV:
FANAnnIA und "Unternehmen Bimsstein" – von Anne Steul bis Walter Spiegl: Soziokulturelle Beobachtungen über die Begründer des westdeutschen Fandoms

Dieser Teil umfaßt zwei Originalbeiträge, nämlich "Ich habe die Nase gestrichen voll von Raketen und ähnlichem Käse", ein Text, in dem Eisfeld noch einmal einen Blick auf die Pionierjahre 1955-1960 des deutschen SF-Fandoms wirft. Darin stellt er verschiedene prägende Personen des frühen Fandoms vor, so Anne Steul, die für ein rein fannisches Fandom ohne Beteiligung von Profi-Autoren eintrat (was natür­lich u.a. als Kritik an Walter Ernsting alias Clark Darlton gemeint war); Wolf Detlef Rohr, in dessen literarischer Agentur Eisfeld einige Zeit mitgearbeitet hat; und schließlich Walter Spiegl, den späteren Herausgeber der Ullstein-SF, der in der Frühzeit der deutschen SF Forrest J. Ackermans SF-Agentur in der Bundesrepublik vertrat und die Verbindung zwischen Walter Ernsting und Ackerman herstellte, ohne die der Utopia-Sonderband nie erschienen wäre.

Im zweiten Beitrag – "Geschrieben im Weltraum während der Umrundung des Mondes an Bord der MR 1" – beschreibt Rainer Eisfeld, wie Walter Ernsting die Erzählung "A Step Farther Out" des amerikanischen SF-Autors Raymond Z. Gallun für den Utopia-Großband 34 als "Der Ring um die Sonne" auf Romanlänge erwei­terte. Später lernten sich Ernsting und Gallun in Frankfurt dann auch persönlich kennen, eine Begegnung, über die Ernsting sehr launig im Utopia-Sonderband 1 berichtete.

Teil V:
Fragen an Peenemünde

Statt auf Dauer Science-Fiction-Übersetzer zu bleiben, hat sich Rainer Eisfeld dann doch lieber für ein Studium entschieden. Seine Laufbahn als Geisteswissenschaftler führte ihn schließlich auf eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück, auch wenn sein Interesse an der Science Fiction in all den Jahren nicht nachließ. Inzwischen ist er emeritiert.

Diese doppelte Interessenlage – SF auf der einen, Politikwissenschaft auf der anderen Seite – war es auch, die ihn dazu führte, 1996 bei Rowohlt unter dem Titel "Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei" jenes Buch herauszubringen, das ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Darin untersucht er die Verstrickung des SS-Angehörigen Wernher von Braun in das mörderische Sklavenarbeitersystem der Nationalsozialisten. Nahe­liegend also, daß er dieses Thema im vorliegenden Band noch einmal aufgreift. Dies tut er in gleich zwei Texten, nämlich dem Aufsatz "Der 'Mythos Peenemünde' – Ent­stehung, Verfestigung, erste Risse" und in dem hier in leicht gekürzter Fassung ab­ge­druckten Vortrag "Über den Umgang mit 'Jahrestagen' der V 2: Kritik und Vor­schläge", den er bereits am 20.9.2012 anläßlich der Fachtagung "Historisch-Tech­nisches Museum Peenemünde 2020" gehalten hatte.

Ergänzt wird dieser ebenfalls überaus lesenswerte Band durch einen Bildteil, in dem sich neben acht Farbtitelbildern weitere 16 Fotoseiten mit Bildern der erwähnten Personen, Fanzines und Geschichten finden. Eines dieser Bilder zeigt Wernher von Braun anläßlich eines Besuchs von Adolf Hitler auf dem Artillerieschießplatz Kum­mers­dorf im Jahre 1939. Ein halbes Jahr später trat von Braun in die NSDAP ein und wiederum ein halbes Jahr später auch in die SS. Dem gegenübergestellt findet sich natürlich auch ein Foto der Gedenkstätte Mittelbau Dora bei Nordhausen.

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